ZU Besuch BEI EINEM Porn Film Festival
Das Porn Film Festival Wien ist gerade zu Ende gegangen, und das Porn Film Festival Brüssel steht vor der Tür – eine gute Gelegenheit, darüber zu reflektieren, was Porn Film Festivals eigentlich sind und wie sie unseren Blick auf Porno prägen können. Unser Gastautor Nick Grasso war beim berühmt-berüchtigten Porn Film Festival Berlin und lässt uns durch seine Augen sehen, wie Festivals den eigenen Horizont erweitern, sexarbeitspositive und queer-inklusive Räume schaffen und die Grenzen des Genres transzendieren können.

Es ist ein kalter Oktobermorgen im Jahr 2024. Ich betrete das Kino Moviemento im Herzen von Kreuzberg, Berlin. Ich hole mir mein Ticket und betrete gemeinsam mit 60 anderen Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe Saal 3. Die Aufregung liegt spürbar in der Luft: Die Outfits der Besucher*innen decken das gesamte Farbspektrum ab, einige knabbern an Tacos, manche sind mit Freund*innen da, andere allein. Das Licht geht aus, und die Vorführung beginnt. Alles wirkt ziemlich normal für einen Kinobesuch, oder? Doch das hier ist keine gewöhnliche Filmvorführung: Es ist die Kurzfilmsammlung „Art & Experimental Porn“ beim 19. Porn Film Festival Berlin.
Wir leben derzeit in einer der sexärmsten Phasen des Mainstream-Kinos, und die öffentliche Wahrnehmung von Pornografie trägt dazu bei. Viele Menschen erleben dieses Genre (denn ja, es ist ein Genre mit eigenen Konventionen, einer eigenen Bildsprache und bestimmten Erwartungen) nur durch Vorurteile oder schädliche Klischees. Es gibt jedoch Realitäten – insbesondere im Indie-Porno – die sich darum bemühen, Sexarbeiter*innen zu empowern und alle Facetten von Geschlecht und Sexualität zu normalisieren, indem sie gesellschaftliche Stigmata durch die Kraft des Films abbauen.
Und genau hier kommt ein Pornofilmfestival ins Spiel. Als ich mit mehreren engen Freund*innen über das Festival sprach, war deren Vorstellung meist die einer Art „Sex-Kino“, bei dem Besucher*innen sich inkognito einschleichen, um öffentlich erregt zu werden. Doch das könnte nicht falscher sein: Der Besuch eines Pornofilmfestivals ist genauso normal wie jeder andere Kinobesuch – nur dass statt der üblichen Werbetrailer jene von Pornoproduktionen (den Sponsor*innen des Festivals) gezeigt werden.
Das Porn Film Festival Berlin ist sowohl eine bezaubernde als auch inspirierende Erfahrung. Der erste Kinobesuch ist nervenaufreibend: Man weiß nicht, was einen erwartet, und das gemeinsame Anschauen von Pornos fühlt sich noch immer wie ein Tabubruch an. In solchen Momenten wird deutlich, wie unangenehm Gespräche über Sexualität oft noch sind – ganz zu schweigen davon, sie auf der großen Leinwand zu sehen, mit allen Geräuschen verstärkt durch das Surround-System des Kinos. Und doch: Nach der ersten Vorführung und ein paar nervösen Lachern wird es plötzlich… normaler. Häufig sind Regisseur*innen und Darsteller*innen selbst anwesend, beantworten Fragen und zeigen damit: Was auf der Leinwand zu sehen ist, ist das Werk realer Menschen. Sie sind Profis, Amateure, Escorts, alte Hasen oder Neulinge – aber vor allem Künstler*innen, und es ist berührend zu sehen, wie sie strahlen, wenn ihre Werke und Körper auf der Leinwand gefeiert werden.

So fühlte es sich auch für mich an: Über Pornografie wurde in meiner Kindheit nie gesprochen – schon gar nicht im oberflächlichen Sexualkundeunterricht der Schule. Ich trug jahrzehntelanges katholisches Stigma mit mir, als ich zum ersten Mal eine Vorführung besuchte. Doch sobald der Film begann, wurde mir klar, dass ich mir keine Sorgen hätte machen müssen: Ich war umgeben von Gleichgesinnten, einige mit ähnlicher Geschichte wie ich, die einen Pornofilm einfach als Film genießen konnten. Eine lustige Szene sorgte für Lacher, eine zu lange Sexszene für Gähnen – wie bei jeder anderen Vorführung auch. Denn wir sprechen hier über Kino. Und auch wenn die Inhalte ungewöhnlich und unterrepräsentiert auf der Leinwand sind, bedienen sich diese Filme derselben Filmsprache wie die Klassiker, die mich einst fürs Kino begeistert haben. Ob ikonischer Spiegel-Shot aus Citizen Kane oder kunstvoll inszenierter Crotch-Shot (Kamera filmt zwischen die gespreizten Schenkel) – es ist und bleibt Kino.
Ein Festival ist nur so gut wie seine Auswahl – und die Programmverantwortlichen des PFFB leisten jedes Jahr Großartiges, indem sie eine breite Vielfalt von Projekten internationaler Filmschaffender präsentieren. Natürlich: Ein Großteil des Programms zeigt expliziten Sex (meist in den Kategorien Hetero, Gay, Lesbian und Queer), aber ebenso gibt es viele nicht-explizite, avantgardistische oder alternative Filme, die die Grenzen dessen verschieben, was als Pornografie gilt.
Was ist überhaupt Pornografie?
Diese Frage bleibt aktuell – und ein Festival wie dieses ist eine wunderbare Gelegenheit, den Begriff zu erweitern. Beispielsweise mit Silver V (Regie: Lina Bembe), einem Kurzfilm über lesbische Vampire, der das Thema Blut in Pornos neu interpretiert, indem er es lila färbt. Oder The third world after the sun (Regie: Analú Laferal & Tiagx Vélez), eine Mischung aus dem magischen Slow Cinema von Apichatpong Weerasethakul und dem Realismus eines Werner Herzog – mit einem Hauch Transsexualität und Latexfetisch. In einer Vorstellung erlebt man die opulente Sci-Fi-Oper The Lesbian Alien Darkroom Fisting Operetta on Venus (Regie: Lasse Långström), danach einen intimen Dokumentarfilm wie Remote Sex Work (Regie: Carmina/Prune) über Cam-Performer*innen in Frankreich oder die Geschichte eines BIPoC nicht-binären Transmanns in *I Really Want To Get Fucked* (Regie: Robin Astera). Auch konventionellere Filme gibt es: In der Ausgabe 2024 wurde die Doku Teaches of Peaches (Regie: Philipp Fussenegger, Judy Landkammer) gezeigt, sowie restaurierte Versionen der Teen Apocalypse Trilogy von Gregg Araki. 2023 war die Oscar-nominierte Doku Kokomo City (Regie: D. Smith) über schwarze trans Sexarbeiter*innen in den USA im Programm.
Diese Vielfalt scheint auf den ersten Blick das Konzept von „Pornografie“ zu verwässern – in Wahrheit erweitert sie es und zeigt, wie grenzenlos es ist. Eine ernsthafte Doku über das Leben als Sexarbeiterin und alleinerziehende Mutter kann ebenso bestehen wie ein queeres Paar, das Sex im Wald hat. Der Begriff „Pornografie“ wurde weltweit von Regierungen instrumentalisiert, um sexuelle Freiheit und Ausdruck zu unterdrücken – in manchen Ländern ist jede explizite Darstellung strafbar. Auf dem Porn Film Festival Berlin dagegen wird das Wort „Pornografie“ zu einem tröstlichen Begriff: ein Zeichen, dass es sichere Räume gibt – für Sexarbeiter*innen, trans Darsteller*innen, offen sexuell aktiv lebende Frauen und all jene, die sonst an den Rand gedrängt werden.
Genau hier liegt die Kraft einer so diversen Filmauswahl: Verborgene Zuschauer*innen finden vielleicht in Bruce LaBruces *The Visitor* (ein Remake von Pasolinis Teorema) den Mut, zu ihrer eigenen Identität zu stehen. Queere Frauen leben durch Jasko Fides Fantastic Squirt, eine heiße Barfantasie, stellvertretend ihre Sehnsüchte aus. Pornografie muss nicht bloß visuelle Stimulation zur Selbstbefriedigung sein – sie kann Kunst sein, Comedy, Inspiration, Wahrheit. Ein genauso weites filmisches Genre wie jedes andere – eines, das man selbst erleben muss, um es zu begreifen.
Eine Utopie in hasserfüllten Zeiten
Auch wenn es von außen anders wirken mag: Wir leben noch immer in zutiefst hasserfüllten Zeiten – auch in sogenannten „entwickelten“ Ländern herrschen Rassismus, Misogynie und Homo-/Transphobie. Ein Pornofilmfestival ist nicht nur eine Chance, unterrepräsentierte Menschen ihre Geschichten erzählen zu lassen, sondern auch, ihnen persönlich zu begegnen. Ob beim „Adult Industry Only“-Event oder in öffentlichen Panels und Workshops – der Austausch mit den Filmschaffenden ist der beste Weg, die Branche besser zu verstehen: Wie Darsteller*innen täglich stigmatisiert werden, wie Kreditkartenfirmen den Onlineverkauf einschränken – aber auch, wie lebenslange Freundschaften entstehen, wie Hoffnung und Gemeinschaft wachsen, um kreative Freiheit und finanzielle Sicherheit zu sichern. Während des Festivals vernetzen sich Performer*innen, drehen neue Filme, schmieden Pläne, teilen Erlebnisse und Hoffnungen. Man erfährt, wie Paare durch Pornodrehs neue Leidenschaft entdeckten, wie Frauen nach gewaltvollen Beziehungen durch Cam-Arbeit einen Neuanfang wagten, wie Performer*innen durch ihre Arbeit ihre Geschlechtsidentität erweiterten oder vollzogen.
Vielleicht klingt es utopisch – aber ein Besuch bei einem Pornofilmfestival würde vielen Menschen guttun. Ob in Berlin, Warschau, Rom, San Francisco, Seattle oder Wien: Wahrscheinlich ist eines gar nicht weit entfernt. Es ist eine einzigartige Chance, innere Vorurteile abzulegen, die Komfortzone zu verlassen und in einem sicheren Rahmen Neues auszuprobieren. Und es ist eine Gelegenheit, filmische Ausdrucksformen zu entdecken, die überraschen und bewegen. Für mich war es eine zutiefst bereichernde Erfahrung – politisch, künstlerisch und menschlich.
Nick Grasso ist Cineast und Filmschaffender. Wenn er nicht gerade Filme schaut, editiert oder rezensiert, dreht er mit und für bekannte Gesichter des Indie-Pornos von Jasko Fide bis Bishop Black.
Mehr von ihm gibt’s hier zu sehen: https://www.nicolograssofilmmaker.com/.
Copyright Bildmaterial: Porn Film Festival Berlin / Header – Virginia D, im Text – Robert Wilde